Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft veröffentlicht Expertise zum Staatsvertrag in Hamburg
Die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an
der Goethe-Universität hat ihre neue Expertise zum Verhältnis zwischen Staat
und islamischen Religionsgemeinschaften am Beispiel Hamburg veröffentlicht. Die
Publikation zeichnet den Weg von der Aufnahme der Verhandlungen bis hin zur
Annahme des Staatsvertrags durch die Hamburger Bürgerschaft nach.
FRANKFURT. Bestattungen nach islamischen Riten, islamischer Religionsunterricht in Schulen, Islamische Theologie und Religionspädagogik an Universitäten, islamische Feiertage – all diese religiösen Belange, die sich im öffentlichen Raum abspielen, können nur vom Staat gemeinsam mit etablierten Religionsgemeinschaften gelöst werden. Häufig stehen staatliche Institutionen jedoch vor dem Problem, auf Seiten islamischer Religionsgemeinschaften geeignete und akzeptierte Ansprechpartner zu finden.
In Hamburg ist es gelungen, mit Repräsentant*innen aller
islamischen Gemeinschaften zu verhandeln und zu gemeinsamen Ergebnissen zu
gelangen, die in einen Staatsvertrag gegossen wurden. Mit welchen Höhen und
Tiefen ein solcher Prozess verbunden ist, zeigt die jetzt veröffentlichte
AIWG-Expertise auf. Autor der AIWG-Publikation ist Norbert Müller, Jurist und
Vorstandsmitglied des islamischen Landesverbands SCHURA Hamburg. Er hat die
Verhandlungen für den Staatsvertrag jahrelang über Gespräche mit der
Öffentlichkeit, der Politik und den verschiedenen islamischen Vereinen
mitgestaltet. Müller zeigt Perspektiven auf positive Effekte in Bezug auf
innermuslimische Debatten auf und thematisiert gleichzeitig Probleme.
Der
Staatsvertrag regelt noch bis zum Jahr 2022 die Zusammenarbeit zwischen dem
Bundesland Hamburg mit dem DITIB-Landesverband Hamburg, der SCHURA – Rat der
Islamischen Gemeinschaften in Hamburg und dem Verband der Islamischen
Kulturzentren. Der Hamburger Senat hat daneben auch mit der Alevitischen
Gemeinde einen Staatsvertrag abgeschlossen und der dortigen Ahmadiyya Muslim
Jamaat Körperschaftsrechte verliehen.
Laut Autor zählen zu den positiven Effekten des Staatsvertrags
in Hamburg unter anderem: Islamische Religionsgemeinschaften werden als
legitime gesellschaftliche Akteurinnen anerkannt, in Deutschland lebende
Muslim*innen werden gesellschaftlich integriert und Behörden erhalten im Umgang
mit islamischen Gemeinschaften Handlungssicherheit. Der Kampf staatlicher
Einrichtungen gemeinsam mit islamischen Religionsgemeinden gegen Extremismus
wird erleichtert, islamisch-theologische Studien an der Hamburger Universität
sowie ein „Religionsunterricht für alle“ an Hamburger Schulen konnte eingeführt
und der interreligiöse Dialog gestärkt werden. Neben der Hervorhebung positiver
Effekte führt der Autor auch selbstkritisch und offen hausgemachte
Ursachen von muslimischer Seite an, die unter anderem Auslöser für Kritik am
Staatsvertrag sind. Dazu gehören zum Beispiel: die frühere Teilnahme von
Funktionär*innen und Mitgliedern des Islamischen Zentrum Hamburgs am
Al-Quds-Tag, der Einfluss der türkischen Religionsbehörde auf
DITIB-Gemeinschaften oder öffentlich umstrittene Facebook-Aussagen eines
Vorstandsmitglieds der SCHURA Hamburg. Damit wird auch deutlich: Wollen Muslime
glaubhafte Partner von Stadtgesellschaften sein, müssen sie sich klar für den
demokratisch-säkularen Rechtsstaat aussprechen und dies auch gegen Widerstände
in den eigenen Reihen vertreten.
Im Vergleich zu anderen Bundesländern wird deutlich, dass das Land
Hamburg (mit Bremen) die Gleichstellung islamischer Gemeinschaften weiter
vorangetrieben hat. Die Hansestadt hat den religionsrechtlich verbrieften Weg
des Abschlusses einer umfassenden Vereinbarung beschritten, der auch in der
Zusammenarbeit mit kirchlichen Gemeinschaften üblich ist. Bislang haben nur
Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz mit den dort bestehenden
SCHURA-Verbänden und anderen islamischen Gemeinschaften
Staatsvertragsverhandlungen beziehungsweise Sondierungsgespräche aufgenommen,
wobei in Niedersachen und Schleswig-Holstein die Verhandlungen mittlerweile
ausgesetzt wurden.
„Das Beispiel Hamburg zeigt, in
welchen Spannungsfeldern sich noch immer das Verhältnis zwischen Staat und
Islam in Deutschland bewegt“, sagt Dr. Raida Chbib, Politikwissenschaftlerin
und Geschäftsführerin der AIWG. „Das Beispiel
Hamburg zeigt aber auch, dass möglich ist, was bislang kaum möglich schien:
dass sich nämlich alle Beteiligten auf verbindliche Regeln wie etwa einen
Staatsvertrag einigen können. Was dabei besonders wichtig ist: Damit wird
rechtliche Sicherheit geschaffen, die demokratiefreundliche Kräfte auf allen
Seiten stärkt.“
Über die Publikationsreihe „AIWG-Expertisen“ und „AIWG in puncto“:
Mit ihren Publikationsreihen „AIWG-Expertisen“ und „AIWG in
puncto“ möchte die AIWG Wissensbedarfe zum Islam in Deutschland decken,
Debatten versachlichen sowie Erkenntnislagen verbessern.
Über die AIWG
Die AIWG ist eine universitäre Plattform für Forschung und
Transfer in islamisch-theologischen Fach- und Gesellschaftsfragen. Sie
ermöglicht überregionale Kooperationen und Austausch zwischen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der islamisch-theologischen Studien
und benachbarter Fächer sowie Akteurinnen und Akteuren aus der muslimischen
Zivilgesellschaft und weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Die AIWG wird
gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und durch die
Stiftung Mercator.
Publikation:
AIWG-Expertise
„Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften. Der
Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive“
https://aiwg.de/wp-content/uploads/2021/08/AIWG_Expertise-Staatsvertrag_Screen.pdf