Soziologe lehrte und forschte über 30 Jahre in Frankfurt. Habermas-Assistent und Begründer der „objektiven Hermeneutik“
FRANKFURT. Die
Goethe-Universität trauert um den Soziologen und Sozialpsychologen Prof. Dr.
Ulrich Oevermann, der am vergangenen Montag in Bern im Alter von 81 Jahren
verstorben ist. Nach dem Soziologiestudium in Freiburg und München war er
wissenschaftlicher Assistent am Frankfurter Lehrstuhl für Philosophie und
Soziologie von Prof. Dr. Jürgen Habermas, wo er auch mit seiner Dissertation
„Sprache und soziale Herkunft.Ein Beitrag zur Analyse schichtenspezifischer
Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg“ promoviert
wurde. 1977 erhielt Oevermann den Ruf auf die Professur für Soziologie mit dem
Schwerpunkt Sozialpsychologie an der Goethe-Universität; über 30 Jahre hatte er
die Professur inne, 2008 wurde er emeritiert. Gastprofessuren führten ihn parallel
nach Paris, Bern, Wien und Innsbruck. Oevermann begründete eine eigene
Methodologie der objektiven Hermeneutik, die sich mit den Sinnstrukturen der
Welt beschäftigt. Bestehend aus Sequenzanalyse und hypothesengeleiteter
Strukturgeneralisierung ermöglicht sie es, naturwüchsige Protokolle
kontrolliert auszuwerten und zu interpretieren. Die Schwerpunkte von Oevermanns
Forschung lagen in der Religions- und Familiensoziologie sowie in der Theorie
der Professionalisierung.
Universitätspräsident Prof. Dr. Enrico Schleiff sagt: „Die Goethe-Universität
trauert um ihr langjähriges Mitglied Professor Dr. Ulrich Oevermann. Der
Soziologe war der Goethe-Uni zutiefst verbunden: So wirkte er hier als
Assistent von Jürgen Habermas, so folgte er – vom MPI für Bildungsforschung in
Berlin kommend – 1977 einem Ruf auf eine Professur an der Goethe-Universität.
Ulrich Oevermann bereicherte bis zu seiner Emeritierung 2008 (und weit darüber
hinaus) die Wissenschaft: Ein herausragender Intellektueller und
Hochschullehrer, der sein individuelles Denken objektivierte, zu einer
allgemein anwendbaren Methode zu machte. Ein Universitätsprofessor, der Feuer
und Flamme für die Lehre in seinen Lehrveranstaltungen war. Ein Mensch, der in
anderen das Licht zur Erkenntnis sowie das Feuer der Begeisterung entzündete.
Seine Interpretationen waren atemberaubend: Die Weite seiner Quellen, die Tiefe
und Evidenz seiner Erkenntnisse – aus den unscheinbarsten Passagen konnte er
wirklich Erstaunliches freilegen, reichste Kenntnisse gewinnen. Von der
Kritischen Schule kommend, hat er seine eigene Schule gegründet: Die objektive
Hermeneutik. Mit dieser hat er – den Geist der heutigen Zeit vorwegnehmend –
nicht nur in academia gewirkt, sondern auch aus dieser heraus. Mit Ulrich
Oevermann verliert die Goethe-Universität einen Gelehrten, einen höchst
individuellen Denker, der stets dafür kämpfte, andere an seinem Intellekt
teilhaben zu lassen.“
Prof.
Dr. Birgit Blättel-Mink, Dekanin des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften,
betont: „Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften trauert
um den langjährigen Kollegen Professor Dr. Ulrich Oevermann. Ulrich Oevermann
hat hier Generationen von Studierenden und Doktorand*innen seine Art,
Soziologie zu betreiben, in stunden-, ja nächtelangen Seminaren nahegebracht.
Die von ihm entwickelte ‚objektive Hermeneutik‘ als Sozialtheorie und
sozialwissenschaftliche Methode hat zahllose Vertreter*innen dieser
spezifischen wissenschaftlichen Praxis hervorgebracht, von denen einige auch
heute noch in Frankfurt aktiv sind. Mir persönlich ist Ulrich Oevermann in
lebendiger Erinnerung geblieben. Ich denke dabei an seine vehemente Kritik an
der Standardisierung der Ausbildung von Doktorand*innen oder an seine
Begeisterung für schulpraktische Studien in ihrer (selbst)reflexiven Form. Bei
seiner Abschiedsvorlesung im AfE-Turm – an einem Nachmittag im Sommer, die
Klimaanlage war mal wieder ausgefallen – orientierte er sich an dem Dreischritt
von Entdeckungs-. Begründungs- und Verwendungszusammenhang. Nach ca. einer
Stunde war er gerade mal am Ende des Entdeckungszusammenhangs angekommen - die
große Menge an aufmerksamen Zuhörer*innen hielt aber durch. Wir trauern mit
seiner Familie und seinen Freund*innen.“
Prof. Dr. Alexander Schmidt-Catran,
Geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie, betont: „Prof. Dr.
Ulrich Oevermann hat das, was heute weltweit als die Frankfurter Schule bekannt
ist, entschieden mitgeprägt. Als Begründer der objektiven Hermeneutik prägt er
die Soziologie bis heute. Er war ein leidenschaftlicher und engagierter
Vertreter seines Faches und wurde auch von Studierenden geschätzt. Wir trauern
mit seiner Familie und seinen Freunden um einen langjährigen und geschätzten
Kollegen.“
Redaktion: Dr. Dirk Frank, Pressereferent / stv. Leiter, Abteilung PR & Kommunikation, Telefon 069 798–13753, frank@pvw.uni-frankfurt.de