Sep 6 2005

Tagung zur Bedeutung von Täuschung und Tarnung als ästhetische Praktiken

Mimikry | Mimese. Gefährlicher Luxus zwischen Natur und Kultur

FRANKFURT. Seit den Studien des Biologen Henry Walter Bates bezeichnet man mit dem Terminus Mimikry die Eigenart bestimmter Spezies, Merkmale anderer Arten zu imitieren. Einige Tier- und Pflanzenarten täuschen das Erscheinungsbild einer anderen Art vor, indem sie deren Ästhetik und Verhalten kopieren. Andere, wie das Chamäleon oder das Lebende Blatt, verschmelzen mit dem Hintergrund oder mit ihrer Umgebung und werden so unsichtbar – sie betreiben Mimese.

Lebendiges gleicht sich Unlebendigem an. Tiere erscheinen pflanzenhaft, Pflanzen erscheinen wie Tiere. Camouflage vollzieht sich, indem der Raum bzw. räumliche Merkmale präpariert und modifiziert werden: Die Haut eines Tieres täuscht eine plastische Szenerie vor bzw. schmiegt sich in diese ein. Dabei gelingt die Täuschung nur, wenn der Beobachter eine bestimmte Position und Perspektive einnimmt. Die Lebewesen scheinen ihr Beobachtet-Werden mit einzukalkulieren, Ähnlichkeit schreibt sich in die Körper ein.

Verfahren der Mimikry lassen sich nicht ausschließlich mit Überlebenstechniken oder Selektionsmechanismen erklären. Die alleinige Reduktion auf die Anpassungsleistung übersieht, welch schöpferischer Reichtum diesen Erscheinungen zugrunde liegt. Mimikry ist luxuriös. In einigen Fällen wird der vermeintliche Schutzmechanismus sogar zur Gefahr. Es ist, als ob die Natur Ähnlichkeiten ungeachtet des Aufwandes und der Nützlichkeit herzustellen ;versucht’. Produziert die Natur also Kunst?

Das biologische Konzept der Mimikry | Mimese ist immer wieder auch für kulturelle Analysen fruchtbar gemacht und auf ästhetische, psychologische und soziale Bereiche übertragen worden. Walter Benjamin, Roger Caillois, Michael Taussig, Homi Bhabha und andere bedienen sich der Terminologie und übertragen sie in ihren Studien auf ästhetische, psychologische und soziale Bereiche.

Das Graduiertenkolleg nimmt die Vielgestaltigkeit und Interdisziplinarität des Diskurses zum Anlass, Fragen der ästhetischen Wahrnehmung zu diskutieren. Welche Funktionen nimmt die kulturelle Mimikry ein? Wie kann man den prekären Status der Identität zu fassen versuchen, wenn die Unterscheidbarkeit selbst auf dem Spiel steht? Wie lassen sich die Formen der Mimikry | Mimese im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, zwischen Nachahmendem, Nachgeahmtem und überdies dem, der beide beobachtet, beschreiben?

Bereits in den beiden Termini selbst klingt ihre Herkunft aus der klassischen und seit der Antike diskutierten Mimesistheorie an. Der Begriff Mimikry wird häufig als Gegenbegriff oder Ergänzung zu Mimesis-Konzepten der nachahmenden Repräsentation eingesetzt. Worin unterscheiden sich Mimikry | Mimese von der Mimesis? Wie wird mit der Tatsache umgegangen, dass mit dem Begriff zugleich ein biologischer Diskurs wachgehalten wird? Im Falle der Mimikry wird eine andere Identität vorgetäuscht, im Falle der Mimese eine Identität scheinbar aufgegeben, die Umrisse bzw. die Differenzen zur Umwelt werden verwischt. In einer Kultur, die den Zwang zur Uniformität als Zwang zur Individualität ausbuchstabiert, bieten Mimikry und Mimese die Möglichkeit der subversiven Gegenwehr. Gleichzeitig besteht immer die Gefahr, dass die Anpassung zur Anverwandlung wird: Spion, Partisan und militä-rische Techniken der Camouflage lassen Unterscheidungen zwischen Freund-Feind, Zivilist-Soldat, Natur-Kultur unscharf werden.

Ist Mimikry eine Taktik der ‚Schwachen’, ein Zwang, die Eigenart der anderen zu übernehmen, oder eine offensive Strategie? Als kulturelle Praktiken können Mimikry und Mimese Zeichenregime unterlaufen, d. h. scheinbar selbstverständliche Wahrnehmungskonventionen und -muster bedienen, sie zugleich aber thematisch und damit fragwürdig werden lassen. So wurde Mimikry im Kontext von Kolonialismus als soziales Verhalten im Spannungsfeld von Unterdrückung, Subversion und Wiederaneignung thematisiert. Inwiefern lassen sich auch Praktiken von Minderheiten innerhalb unserer Kultur als Mi-mikry beschreiben? Können Phänomene wie Maskerade, Transvestismus und Gender-Switching als Formen der Mimikry gelesen werden?

Einige künstlerische Praktiken, wie das Fake, die Illusionsherstellung der Trompe-l’oeil-Malerei und die Camouflage sind den beschriebenen natürlichen Verfahren verwandt. Inwiefern werden traditionelle Kategorien wie der Autoren- und Werkbegriff, Original und Kopie durch diese Techniken unterlau-fen? In welchem Verhältnis stehen diese künstlerischen Verfahren zu den ästhetischen Prozessen der Natur?

Die Tagung findet vom 29. September bis 1. Oktober im Frankfurter Zoo, dem IG Hochhaus auf dem Campus Westend und dem Kino ‚Mal Seh’n’ in der Adlerflychtstraße statt.

Kontakt: Dr. Andreas Becker, Anneka Metzger, Serjoscha Wiemer; Graduiertenkolleg ‚Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung’; Campus Westend; Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt; Tel.: (069)79 83 31-15/-16 (montags und donnerstags von 10-16h); Fax (069)79 83 31-16; E-Mail: mimikry@uni-frankfurt.de