Wichtiger Schritt zum Filmen chemischer Reaktionen
Am Röntgenlaser European XFEL hat jetzt ein internationales Wissenschaftsteam erstmals einen Schnappschuss eines ringförmigen Moleküls mit einer neuartigen Messmethode gemacht. Forscherinnen und Forscher vom European XFEL, DESY, der Universität Hamburg und der Goethe-Universität Frankfurt nutzten zusammen mit weiteren Partnern den weltgrößten Röntgenlaser dazu, das Molekül Iodpyridin zu zerschlagen, um aus den entstandenen Bruchstücken das Bild des intakten Moleküls zusammenzusetzen (Nature Physics, DOI 10.1038/s41567-022-01507-0).
SCHENEFELD/FRANKFURT. Das
Fotomotiv zur Explosion bringen, um ein Bild davon zu machen? Diese „rabiate“
Methode hat ein internationales Forschungsteam am weltgrößten Röntgenlaser
European XFEL zum Ablichten größerer Moleküle benutzt. Mit Hilfe ultraheller
Röntgenblitze konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Bilder des
Moleküls Iodpyridin in der Gasphase mit atomarer Auflösung aufnehmen. Bei dem
Verfahren werden die Moleküle durch den Röntgenlaser zur Explosion gebracht,
und aus den Trümmern wird das Bild rekonstruiert. „Dank der extrem intensiven
und besonders kurzen Röntgenpulse des European XFEL konnten wir ein für diese
Methode und Molekülgröße beispiellos klares Bild erzeugen“, berichtet Rebecca
Boll von European XFEL, Initiatorin des Experiments und eine der beiden
Erstautorinnen der Veröffentlichung, in der das Team seine Ergebnisse im
Fachblatt „Nature Physics“ beschreibt. Solche deutlichen Abbildungen von
größeren Molekülen waren mit der verwendeten Technik bislang nicht möglich.
Die Aufnahmen sind ein wichtiger Schritt hin zu Molekül-Filmen,
mit denen Forschende in Zukunft mit hoher Auflösung Details von biochemischen,
chemischen und physikalischen Reaktionen beobachten möchten. Von solchen Filmen
werden neue Anstöße für Entwicklungen in verschiedenen Forschungsgebieten
erwartet. „Die von uns verwendete Methode ist insbesondere zur Untersuchung
photochemischer Prozesse interessant“, erklärt Till Jahnke, European XFEL und
Goethe-Universität Frankfurt, der ebenfalls zum Kernteam der Untersuchung
zählt.
Solche Vorgänge, bei denen chemische Reaktionen durch Licht
ausgelöst werden, sind sowohl im Labor als auch in der Natur von großer
Bedeutung, beispielsweise bei der Photosynthese oder beim Sehprozess im Auge.
„Die Entwicklung solcher Filme ist zunächst Grundlagenforschung, aber die damit
gewonnenen Erkenntnisse könnten in der Zukunft dazu beitragen, solche Prozesse
besser zu verstehen und neue Ideen für die Medizin, nachhaltige
Energiegewinnung oder Materialforschung zu entwickeln“, hofft Jahnke.
Bei der als Coulomb Explosion Imaging bezeichneten Methode schlägt
ein hochintensiver und ultrakurzer Röntgenlaserpuls aus den Atomen des Moleküls
zahlreiche Elektronen heraus. Zurück bleiben elektrisch positiv geladene Atome,
die sich gegenseitig abstoßen. Durch die starke elektrostatische Abstoßung
explodiert das Molekül innerhalb von wenigen Femtosekunden – das sind
Millionstel einer Milliardstel Sekunde. Die einzelnen Atome fliegen auseinander
und werden von einem Detektor registriert.
Die Technik soll Momentaufnahmen sehr schneller Prozesse
ermöglichen. „Bislang war diese Methode allerdings begrenzt auf kleine
Moleküle, die aus nicht mehr als fünf Atomen bestehen“, erläutert Julia Schäfer
vom Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) bei DESY, die andere
Erstautorin der Studie. „Mit unserer Arbeit haben wir diese Grenze beim Coulomb
Explosion Imaging durchbrochen.“ Iodpyridin (C5H4IN) ist ein Molekül aus elf
Atomen.
Aufnahmestudio für die explosiven Molekülbilder ist die
Experimentierstation SQS (Small Quantum Systems) am European XFEL. Hier lenken
elektrische Felder in einem speziell für solche Untersuchungen entwickelten
COLTRIMS-Reaktionsmikroskop die Molekültrümmer auf einen Detektor. Das an der
Goethe-Universität entwickelte Reaktionsmikroskop misst Einschlagort und
Einschlagszeitpunkt der Bruchstücke auf dem Detektor und rekonstruiert daraus
ihren Impuls – das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit, sozusagen die
„Wucht“, mit der sie auf den Detektor treffen. „Aus dieser Information lassen
sich Details über das Molekül gewinnen und mit Hilfe von Modellen der Ablauf
von Reaktionen und Vorgängen rekonstruieren“, sagt DESY-Forscher Robin Santra,
der den theoretischen Teil der Arbeit geleitet hat.
Das Coulombexplosion Imaging eignet sich insbesondere auch dazu,
sehr leichte Atome wie Wasserstoff in chemischen Reaktionen genau zu verfolgen.
Die Technik ermöglicht detaillierte Untersuchungen einzelner Moleküle speziell
in der Gasphase und ist damit eine weitere Methode zur Herstellung von
Molekülfilmen, wie sie am European XFEL auch an anderen Experimentierstationen
entwickelt werden, beispielsweise an Flüssigkeiten.
„Wir wollen fundamentale photochemische Prozesse im Detail
verstehen. In der Gasphase gibt es keine Störungen durch andere Moleküle oder
die Umgebung. Wir können daher mit unserer Technik einzelne, isolierte Moleküle
untersuchen“, sagt Jahnke. Und Boll ergänzt: „Wir arbeiten bereits daran, im
nächsten Schritt Reaktionsabläufe zu untersuchen und die Einzelbilder zu einem
echten Molekülfilm zusammenzufügen. Die ersten Versuche dazu haben wir bereits
unternommen.“
An der Arbeit waren Forscherinnen und Forscher der Universität
Hamburg, der Goethe-Universität Frankfurt, der Universität Kassel, der
Jiao-Tong-Universität in Shanghai, der Kansas State University, der
Max-Planck-Institute für medizinische Forschung und für Kernphysik, des
Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft, des US-Beschleunigerzentrums
SLAC, des Hamburger Exzellenzclusters CUI: Advanced Imaging of Matter, des
Center for Free-Electron Laser Science bei DESY, von DESY und von European XFEL
beteiligt.
Publikation: Rebecca
Boll, Julia M. Schäfer. et. al.: X-ray multiphoton-induced Coulomb
explosion images complex single molecules. Nature Physics, 2022, https://www.nature.com/articles/s41567-022-01507-0
Bilder zum
Download: https://media.xfel.eu/XFELmediabank/?language=de#l=de&cid=26753&cname=Coulomb-Explosion%20(20.01.2022)&f=&s=&p=&r=
Bildtexte:
Modell des Moleküls Iodpyridin (molecule_A.jpg):
Der Ring wird von Kohlenstoffatomen (grau) und einem Stickstoffatom (blau)
gebildet. Das Jodatom (violett) sitzt außen am Ring. Bild: European XFEL /
Rebecca Boll, Till Jahnke
Coulomb-Explosion-Imaging-Aufnahme von Wasserstoffatomen (protons_B.jpg):
In der Coulomb-Explosion-Imaging-Aufnahme haben sich die Wissenschaftler auf
die Wasserstoffatome (violett) konzentriert. Obwohl auch hier der Impuls
dargestellt ist, ist die Form des Rings besser zu erkennen, weil die
Wasserstoffatome als erstes den Molekülverband verlassen und dies als eine
Reaktion auf das Aufladen der Ringatome (C und N) geschieht. Das schwerere
Stickstoffatom wird später im Prozess emittiert, wenn das Molekül schon stärker
aufgeladen ist. Durch die größere Abstoßung hat es daher einen größeren Impuls
als die Wasserstoffatome. Bild: European XFEL / Rebecca Boll, Till Jahnke
Coulomb Explosion Imaging Aufnahme von Kohlenstoff- und
Stickstoffatomen (Carbons_C.jpg):
Die Coulomb Explosion Imaging Aufnahme des Moleküls zeigt detailgenau die
Kohlenstoffatome (rot) und das Stickstoffatom (grün). Der Ring erscheint
verzerrt, weil der Detektor kein direktes Abbild, sondern den Impuls der
Bruchstücke der Explosion registriert, also das Produkt aus Masse und
Geschwindigkeit. Das Jodatom ist nicht dargestellt, da es die waagerechte Achse
des Koordinatensystems festlegt. Bild: European XFEL / Rebecca Boll, Till Jahnke
Weitere Informationen
Prof.
Dr. Till Jahnke
European XFEL und
Institut für Kernphysik, Goethe-Universität Frankfurt
Tel.: + 49 (0)69-798 47023 (Sekretariat)
till.jahnke@xfel.eu
Dr. Rebecca Boll
European XFEL
Tel: +49 (0)40 8998 6244
Tel.
+49 (0)40 8994 1905
rebecca.boll@xfel.de