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Forschung

Nov 21 2014
11:43

Deutsche Forschungsgemeinschaft bewilligt neuen Sonderforschungs-bereich an der Goethe-Universität – Sieben Millionen Euro für Historiker, Ethnologen, Philosophen und Rechtshistoriker

Vergleich zwischen Kulturen und Epochen: Was Diskurse über Schwächen auslösen können

FRANKFURT. Die Frankfurter Geisteswissenschaftler können am 1. Januar 2015 ein Mammutvorhaben starten: Bis 2018 stehen Historikern, Ethnologen, Philosophen und Rechtshistorikern insgesamt mehr als 6 Millionen Euro zur Verfügung, um ein globalhistorisches Problemfeld auszuleuchten, das von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Gestern hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) einem neuen Sonderforschungsbereich (SFB), dem zurzeit einzigen im Bereich der Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität, bewilligt. Er firmiert unter dem Namen „Schwächediskurse und Ressourcenregime“. Etwa 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden in den kommenden drei Jahren in diesem Forschungsverbund zusammenarbeiten, darunter ungefähr 40 Nachwuchsforscherinnen und -forscher.

Worum geht es in dem SFB? Ein Beispiel: Der Zeithistoriker Prof. Dr. Christoph Cornelißen will sich mit der Debatte über den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Europas beschäftigen, der sich durch das ganze 20. Jahrhundert zog. Unterschiedliche Akteure – Politiker, Wirtschaftsvertreter, Publizisten und Wissenschaftler – fürchteten um die Stellung Europas in der Welt, fortschreitende Amerikanisierung oder die gelbe Gefahr sind nur zwei Stichworte. Europa sei dem wachsenden Druck auf den weltweiten Märkten nicht mehr gewachsen, auch im internationalen Bildungsranking verliere es an Boden. In den Diskursen über die Schwächen mischten sich regelmäßig Appelle, sämtliche vorhandene Ressourcen von Menschen, Rohstoffe, Organisationen bis zu Ideen zu mobilisieren. Um den Niedergang Europas aufzuhalten, sollten neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungen begründet werden. Dies beflügelte die Ideen von der Einheit Europas. Dies ist zunächst nur eine grobe thesenhafte Skizze, nun geht es darum die unterschiedlichen Akteure unter die Lupe zu nehmen und genauer zu begründen, wie sich aus Schwächen Ressourcen entwickeln können.

„Solchen Schwächediskursen begegnet man allenthalben. Viel diskutierte Beispiele sind das spätantike Rom oder das China des 19. Jahrhunderts. Aber auch an ganz anderes kann man denken, so an zunächst schwache Wissensbestände, die sich durchsetzen, wie die beginnende Materialwissenschaft des frühen 20. Jahrhundert“, erläutert der Sprecher des neuen Sonderforschungsbereichs, Prof. Dr. Hartmut Leppin. „Wir versprechen uns ein hohes Erkenntnispotenzial davon, dass wir für so scheinbar weit auseinander liegende Themen auf einer angemessenen Abstraktionsebene einen Vergleich vornehmen können.“ Bei den Defizitdiagnosen werden die Wissenschaftler auch immer im Auge behalten, wie die Selbstwahrnehmung der Akteure ist und wie diese aus der Entfernung wahrgenommen werden.

Dass aus den Schwächen auch Stärken werden können, zeigt sich oft, wenn der Diskurs über die Schwächen die Suche nach Ressourcen mobilisiert. Dieses Wechselspiel ist für die Forscher von Interesse. Im Verständnis der Frankfurter Geisteswissenschaftler sind Ressourcen nicht gleichzusetzen mit Rohstoffen: „Uns interessiert vielmehr, was es bedeutet, wenn man einen Mangel an Rohstoffen wahrnimmt und sich daraus ein Schwächediskurs entwickelt, dann aber Ausschau nach anderen Ressourcen gehalten wird“, sagt Leppin. Je nach Teilprojekt geht es um ganz unterschiedliche Ressourcen: Wissen, Verwandtschaft, Heiligkeit, Nationalismus, Information, ökonomisches Kakkül – um nur einige zu nennen. „Das weite Spektrum der Ressourcen kann nur aus ganz unterschiedlichen disziplinären und zeitlichen Perspektiven behandelt werden. Wir zielen auf den Vergleich zwischen Kulturen und Epochen, um die Ergebnisse anschließend auch in höherem Maße verallgemeinern zu können“, so der SFB-Sprecher. Um den starken historischen Kern gruppieren sich Ethnologen und Rechtshistoriker, hier in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte.

Die kooperierenden Wissenschaftler wollen auch eine Annäherung zwischen der europäischen und der Geschichte insbesondere Ost- und Südostasiens sowie Iberoamerikas schaffen. Dazu ein Beispiel: Die Ethnologin Prof. Dr. Susanne Schröter, wie Leppin auch Principal Investigator im Frankfurter Exzellenzcluter „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, will sich unter anderem der Frage zuwenden, warum sich westliche Organisationsmodelle, wie das staatliche Gewaltmonopol, in vielen postkolonialen Ländern kaum durchsetzen lässt. Untersucht werden soll dies insbesondere in Indonesien und auf den Philippinen: Welche Ressourcen setzen dort beispielsweise indigene Gruppen frei, die sich der nationalstaatlichen Kontrolle entziehen? Sind die akephalen Völker, deren Gesellschaften egalitär, also auf politische und soziale Gleichheit ihrer Mitglieder, ausgerichtet sind, vielleicht trotz ihrer politischen Schwächen die eigentlichen Starken? Ist ihr Verhalten vernünftiger als das derjenigen, die staatliche Ordnungen hervorgebracht oder sich bereitwillig in solche eingegliedert haben? Auf derartige Fragen suchen die Ethnologen vor Ort Antworten.

Mit der geisteswissenschaftlichen Perspektive wollen die Mitwirkenden des Sonderforschungsbereichs zur Selbstreflexion der heutigen Gesellschaft beitragen. „Denn die Frage nach dem Umgang mit Ressourcen, ihrer Knappheit, ihrer Schonung wird in teils sehr erregten, politisch wirkungsmächtigen Schwächediskursen geführt. Das wissen wir spätestens seit dem berühmten Bericht des Club of Rome von 1972“, erläutert Leppin. „Der Mangel an Ressourcen scheint mir eine ganz zentrale Herausforderung der Gegenwart zu sein. Dabei darf der Blick nicht auf die materiellen Ressourcen verengt werden.“ Stellvertretende Sprecher des SFB sind neben Susanne Schröter noch der Sinologe Prof. Dr. Iwo Amelung und der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Moritz Epple.

Der Präsident der Goethe-Universität, Prof. Dr. Werner Müller-Esterl sieht in der Bewilligung des Sonderforschungsbereichs, des neunten an der Goethe-Universität, einen weiteren Beleg für die Strahlkraft der Frankfurter Geisteswissenschaftler, insbesondere der Historiker: „Die Bewilligung ist ein weiterer Höhepunkt eines sehr erfolgreichen Jahres; bereits im März erhielten die Historiker den Zuschlag für die DFG-Forschergruppe zu ‚Personalentscheidungen bei gesellschaftspolitischen Schlüsselpositionen‘. Ich gratuliere Hartmut Leppin und seiner Gruppe zu diesem erfolgreichen Antrag. Damit wird das geisteswissenschaftliche Profil der Goethe-Universität weiter geschärft.“

Auch andere Projekte der Historiker und mitwirkender Geisteswissenschaftlern stehen bei Förderern hoch im Kurs. Als „originell, innovativ und beispielgebend“ befand die Volkswagen Stiftung das Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität und stellt dafür im Juli 2014 826.000 Euro zur Verfügung.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) richtet insgesamt acht neue Sonderforschungsbereiche (SFB) ein, wie der zuständige Bewilligungsausschuss gestern auf seiner Herbstsitzung in Bonn beschloss. Der Frankfurter Sonderforschungsbereich ist der einzige geisteswissenschaftliche unter den acht ausgewählten. Die neuen SFB werden mit insgesamt 62 Millionen Euro gefördert. Hinzu kommt eine 20-prozentige Programmpauschale für indirekte Kosten aus den Forschungsprojekten. Zwei der acht eingerichteten Verbünde sind SFB/Transregio (TRR), die sich auf mehrere Forschungsstandorte verteilen.

Informationen: Prof. Dr. Hartmut Leppin, Historisches Seminar, Abteilung Alte Geschichte, Campus Westend, Tel. (069) 798 32462, h.leppin@em.uni-frankfurt.de

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Bildunterschrift: Der Althistoriker Prof. Dr. Hartmut Leppin ist Sprecher des neuen Sonderforschungsbereichs „Schwächediskurse und Ressourcenregime“